Die Hanse Sail in Rostock ist jedes Jahr ein Spektakel voller Gedränge. Segelschiffe aus aller Welt, Musik, Menschenmassen – und dazwischen ich, mit dem Fahrrad, unterwegs zwischen Teilstrecken. Als ich in Lichtenhagen in den Zug stieg, ahnte ich nicht, dass ich eine kleine Lektion in Zivilcourage und Achtsamkeit lernen würde.
Ein voller Waggon und leere Rücksicht
Der Wagon war überfüllt. Die Sitze an den Fahrradplätzen – eigentlich reserviert für Menschen mit Rädern – waren alle belegt. Ich rang mich durch das Gedränge, in der Hoffnung, dass jemand aufsteht. Doch niemand rührte sich.
Ein Kind bemerkte mich und sagte zu seinem Vater: „Wir müssen aufstehen.“ Der Vater? Regungslos. Wechselte das Thema. Auch die anderen Sitzreihen blieben unbewegt, stumm, fast so, als ob mein Fahrrad unsichtbar wäre.
Ich spürte den Kloß im Hals. Ich wusste, ich könnte etwas sagen, aber die Masse, das Gedränge, die Kälte in den Blicken hielten mich zurück. Also stand ich mit meinem Fahrrad mitten im Laufweg, während Menschen sich an mir vorbeidrängten, um auszusteigen oder einzusteigen.
Der stille Ärger über mich selbst
Mit jedem Halt stieg nicht nur die Zahl der Menschen, sondern auch mein Frust – nicht nur über die Rücksichtslosigkeit, sondern vor allem darüber, dass ich nicht den Mut hatte, etwas zu sagen. Ich spürte diese innere Stimme: „Warum sagst du nichts? Warum lässt du dir das gefallen?“
Das ist ein bekanntes Phänomen: der Bystander-Effekt. Je mehr Menschen anwesend sind, desto eher hoffen wir, dass jemand anderes eingreift. Und je mehr Augen uns ansehen, desto schwerer fällt es, in einer Situation die Stimme zu erheben.
Die kleine Schnecke
Und dann, mitten im Gedränge, geschah etwas völlig Unerwartetes.
Ein Mann neben mir beugte sich zu meinem Vorderrad und sagte: „Da fährt ja eine Schnecke mit!“ Tatsächlich: Zwischen Speichen und Reifen saß eine kleine, braune Schnecke. Ein winziger Moment der Achtsamkeit – nicht für mich, nicht für den Sitzplatz, sondern für dieses kleine Lebewesen, das auf meinem Fahrrad „mitgereist“ war.
Was bleibt?
Ich habe an diesem Tag gelernt, dass Mut nicht immer laut sein muss, aber dass Schweigen oft bitter schmeckt. So nahm ich mir vor, beim nächsten Mal klar, aber freundlich zu sagen: „Entschuldigung, das sind Fahrradplätze, könnten Sie bitte aufstehen?“
Und gleichzeitig habe ich begriffen: In einer Welt, in der viele wegblicken, kann ein kurzer Blick auf eine Schnecke manchmal ein Zeichen dafür sein, dass Aufmerksamkeit und Menschlichkeit noch da sind – nur nicht immer dort, wo wir sie erwarten.
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